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Das Ende der Tanzeinlagen

Zweimal gewann Clive Brittain den Großen Preis von Baden. www.galoppfoto.de

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Turf aktuell

TurfTimes: 

Ausgabe 391 vom Donnerstag, 29.10.2015

Mit „Call me Clive“ und einem freundlichen Lächeln unterbrach er jeden, der sich ihm näherte und eine Frage mit „Mister Brittain“ begann. Clive Brittain machte nicht viel Aufheben um seine Person. Umso mehr Aufheben wurde nach seiner Ankündigung Anfang September, seinen Trainerberuf nach 43 Jahren aufgeben zu wollen, allerorten um ihn gemacht. Mitte Oktober am Renntag rund um die Dewhurst Stakes ließ es sich die Rennbahn Newmarket nicht nehmen, den 81jährigen Trainer-Veteran in einer Zeremonie zu ehren und zu verabschieden. Am vergangenen Wochenende lief die 4jährige Acclamation-Tochter Acclio als finaler Starter des Quartiers in einem Handicap in Newbury. Brittain selbst war nicht auf der Rennbahn, er wollte keinen weiteren Rummel um seine Person. Statt die klare Niederlage Acclios, die Mitte September für seinen letzten Sieg als Trainer gesorgt hatte, vor Ort mitzuerleben, verbrachte Brittain den Nachmittag mit seiner Frau Maureen, deren Demenzerkrankung ein wesentliches Motiv für den Rückzug ins Private war. „Wir waren immer ein Team“, sagte Brittain in einem Interview vor einem Monat, „und als halbes Team ist es nicht mehr dasselbe. Ihre Erkrankung hat auch mir den Wind aus den Segeln genommen.“

Brittain verbindet mit seiner Frau eine 58 Jahre währende Ehe, die bis in die Anfangstage seiner Zeit im Turf zurückreicht. Der mit zwölf Geschwistern im ländlichen Calne im Südwesten Englands aufgewachsene schmächtige Clive hatte früh erste Rennerfahrungen in Ponyrennen gesammelt und war 1949 an das Newmarket-Quartier von Noel Murless als Nachwuchsreiter gegangen. Als Jockey konnte er sich am Stall des neunfachen britischen Championtrainers nicht durchsetzen, blieb jedoch am Ende 23 Jahre als Arbeitsreiter bei Murless. Dass er nicht Anfang der 50er Jahre durch einen Wechsel zu einem anderen Quartier versuchte, doch noch seinen Weg als Jockey auf die Erfolgsspur zu bringen, lag vor allem an Maureen, die als Sekretärin bei Murless eingestellt worden war und die er unbedingt auf sich aufmerksam machen wollte. Es dauerte einige Zeit bis aus der anfänglich einseitigen Beziehung eine Partnerschaft für’s Leben wurde, doch 1957 läuteten die Hochzeitsglocken.

Das ruhige Fahrwasser des Stallangestellten verließ Brittain erst 1972, als es Gerüchte über ein bevorstehendes Ende der Trainerzeit von Noel Murless gab (letztlich trainierte der Schwiegervater von Henry Cecil dann doch bis 1976). Er mietete den Pegasus-Stall in Newmarket, wobei sein finanzieller Grundstock nur aus 350 Pfund Wettgewinn bestand. „Es musste sofort funktionieren oder ich wäre noch im ersten Jahr Pleite gegangen“, erläuterte Brittain rückblickend. Und es funktionierte sofort: 13 Siege, zudem einige Platzierungen in besseren Rennen, machten im ersten Jahr Werbung für den Newcomer im Trainerberuf.

Nach drei Jahren stieß er durch die Verbindung mit dem griechischen Reeder Captain Marcos Lemos, einem der führenden Rennstallbesitzer der 70er und 80er Jahre, in neue Dimensionen vor. Lemos hatte den Carlburg-Stall in Newmarket gekauft, installierte dort Brittain als Trainer und schickte ihm 40 Vollblüter. Die Erfolge blieben nicht aus. Mit Ausnahme des britischen Derbys gewann Brittain alle klassischen Rennen auf der Insel. Den Anfang machte 1978 Julio Mariner (Blakeney), den er für seinen Hauptpatron vorbereitete, im englischen St. Leger. Sechs Jahre später folgte durch die ebenfalls in Lemos-Besitz stehende Pebbles der erste Erfolg in den 1000 Guineas, dem später durch Sayyedati (Shadeed) ein weiterer Triumph im Stutenklassiker über die Meile folgen sollte.

Die beiden Stuten finden sich auch in jeder ‚Shortlist‘ der besten Brittain-Vollblüter der 43jährigen Trainerzeit. Auch wenn Sayyedati auf den ersten Blick mit fünf Gruppe I Treffern, darunter mit dem Prix Jacques Le Marois in Deauville auch einen Volltreffer außerhalb Englands, die besseren Referenzen vorzuweisen hat, nimmt Pebbles für Brittain und den britischen Turf eine noch besondere Stellung ein. Der Sharpen Up-Tochter gelang als erstem britischen Vertreter ein Sieg in einem Breeders‘ Cup Rennen, dem Breeders‘ Cup Turf 1985 auf der New Yorker Rennbahn Aqueduct.

Dass es zu diesem Erfolg kam, ist zwei weiteren Eigenschaften von Clive Brittain zuzuschreiben, der Experimentierfreude und dem Einsatz unorthodoxer Mittel. Wie Werner Baltromei in Deutschland seiner Zeit voraus war, als er seine Stallaktivitäten zunehmend auf Frankreich konzentrierte, so war Clive Brittain ein Trendsetter der britischen Trainerszene hinsichtlich der Beteiligung an internationalen Top-Prüfungen auf allen Kontinenten. Ohne den unorthodoxen Einsatz von 100 Dollar Trinkgeld für einen Ordner auf der New Yorker Rennbahn hätte es allerdings nicht zum Breeders‘ Cup Erfolg gereicht, da ist sich Brittain auch 30 Jahre später in einem Interview noch sicher: „Pebbles hätte die Parade mental nicht verkraftet, sie regte sich in solchen Situationen immer fürchterlich auf. Die 100 Dollar für den Ordner, damit er uns einen anderen Weg zur Startmaschine gehen ließ, waren gut angelegtes Geld.“

Schon einige Monate zuvor hatte Brittain einen schlitzohrigen Trick benutzt, um Pebbles die Parade vor den Eclipse Stakes zu ersparen. Er hatte den Hufschmied bestochen, ein Nachbeschlagen der Stute zu faken, wodurch sie die Parade verpasste. Geradezu reif für den Oscar war Brittains persönlicher Einsatz im Jahr zuvor vor dem 1000 Guineas Triumph. Er führte die Stute selbst zur verhassten Parade auf das Geläuf, stolperte jedoch auf dem Weg und fiel Pebbles vor die Füße, so dass ihr Jockey Philip Robinson gezwungen zu sein schien, über ihn hinwegzuspringen und mit der Stute sofort aufzugaloppieren. „Ich bin damit durchgekommen, da niemand zuvor daran gedacht hatte, dass so etwas passieren würde, so dass es keine Strafen dafür gab. Ich hab’s für die Stute gemacht. Durch das, was ich tat, hat sie drei Rennen gewonnen, die sie sonst wahrscheinlich nicht gewonnen hätte.“

Nicht nur mit Pebbles war Brittain Schrittmacher für Erfolge britischer Vollblüter in anderen Kontinenten, auch mit Jupiter Island trug er sich in die Annalen des britischen Übersee-Turfs ein. Der spätreife St Paddy-Sohn, der vierjährig noch auf Handicap-Ebene lief, avancierte 1986 als 7jähriger zum ersten britischen Japan Cup-Sieger. Auch wenn der sportliche Wert des Japan Cups zu dieser Zeit noch nicht dasselbe Niveau wie heute erreicht hatte, belegt allein schon  der Start des zuvor in fünf europäischen Gruppe-Rennen erfolgreichen Hengstes in Tokio die unternehmungslustige Experimentierfreude seines Betreuers.

Gleich drei klassische Rennen gewann die Slip Anchor-Tochter User Friendly für Brittain. Neben den englischen und irischen Oaks war die erst zu Beginn der Dreijährigen-Kampagne in sein Quartier gewechselte Stute auch im englischen St. Leger erfolgreich. Fast hätte sie 1992 Brittain auch einen Arc-Treffer beschert, doch bezog sie im Bois du Boulogne als Zweite eine Viertelänge hinter dem Franzosen Subotica die erste Niederlage ihrer Karriere. Als Vierjährige war sie dagegen in den Rennen auf der Insel weniger erfolgreich, sorgte jedoch in Frankreich mit ihrem Erfolg im Grand Prix de Saint-Cloud für ein weiteres Highlight.

Ein Jahr vor User Friendly hatte es für das Quartier auch im Hengste-Klassiker auf der Meile ein Erfolgserlebnis gegeben. Der Schimmel Mystiko sorgte für den ersten und einzigen Sieg in den englischen 2000 Guineas. Mystiko lief dabei in den Farben von Lady Beaverbrook, die in den 80er und frühen 90er Jahren (bis zu ihrem Tod im Oktober 1994) zu den Stützen des Brittain-Stalles gehörte. Mit einem Beaverbrook-Hengst verbunden ist auch die Geschichte von Brittains Derby-Coup im Jahr 1989. Zwar konnte kein Vertreter des Carlburg-Stalles jemals das englische Derby gewinnen, doch ist der zweite Platz des Bustino-Sohnes Terimon fast wie ein Sieg in die Turf-Geschichte eingegangen. Niemand glaubte an den Hengst, der erst beim achten Lebensstart neun Tage vor dem Derby seine Maidenschaft ablegen konnte. Doch Brittain wollte ihn unbedingt in Epsom an den Start bringen, musste dazu jedoch zunächst Lady Beaverbrook überreden, die fürchtete, sich zu blamieren. Nachdem ihm dies gelungen war, konnte Terimon die Zuversicht seines Betreuers bestätigen. Zwar bestand gegen den übermächtigen Nashwan (Blushing Groom) keine Siegchance, doch der 2. Platz war dem 5010:10 Außenseiter nicht zu nehmen. Dass diese Leistung keine Eintagsfliege war, bestätigte Terimon im weiteren Verlauf der Saison durch seinen Gruppe I Erfolg in den International Stakes beim Sommermeeting in York.

Zu Derby-Ehren kam Brittain immerhin in Italien. Dort gelangen ihm neben zwei Derby-Triumphen in den 90er Jahren auch drei weitere klassische Siege, je einer in den italienischen Oaks und den beiden Meilen-Klassikern für die Stuten und Hengste. Neben Italien stand oft auch Deutschland auf dem Reiseplan des Brittain-Quartiers. Mit dem im Besitz von Mohamed Obaida, einem der treuen Patrone der zweiten Phase der Trainerkarriere, stehenden Air Express schaffte das englische Quartier 1997 den Erfolg im klassischen Mehl-Mülhens-Rennen in Köln, nachdem der Salse-Sohn zuvor bereits das italienische Pendant gewonnen hatte. Mit der Darley-Stute Crimplene trug sich Brittain im Jahr der Jahrtausendwende in die Siegerliste der deutschen 1000 Guineas ein, wobei die Lion Cavern-Tochter dem Erfolg im deutschen Klassiker einen weiteren klassischen Triumph im irischen Pendant folgen ließ.

Jenseits der klassischen Siege sind es vor allem die beiden Hengste Luso und Warrsan, die in Deutschland mit dem Namen Clive Brittain verbunden sind. Der Salse-Sohn Luso, italienischer Derby-Sieger in 1995, wurde im fortgeschrittenen Alter zum Weltenbummler. Neben seinen Starts in Europa, bei denen er insgesamt achtmal auf deutschen Rennbahnen antrat, absolvierte er auch Starts in Hongkong (zwei Siege in der Hongkong Vase), Dubai (zwei erfolglose Teilnahme am Dubai World Cup) und Tokio (eine erfolglose Teilnahme am Japan Cup). Von seinen zehn Gruppe-Erfolgen, darunter vier auf höchstem Parkett, konnte er drei Gruppe I Treffer auf deutschen Rennbahnen feiern. Weitere dreimal belegte er hierzulande in Gruppe I Prüfungen den 2. Platz. Etwas seltener, aber hinsichtlich der finanziellen Ausbeute noch lukrativer, waren die Ausflüge des Caerleon-Sohnes Warrsan auf deutsche Rennbahnen. Dreimal lief der in seiner Heimat als zweifacher Coronation Cup-Sieger profilierte Hengst in Deutschland. Sein erster Auftritt im Sommer 2003 endete noch mit Rang 3 in einem vom hiesigen Derby-Sieger Dai Jin gewonnenen Kölner Gruppe I Rennen, doch anschließend gewann er auf demselben sportlichen Level den Großer Preis von Baden und verteidigte seinen Titel bei seiner Rückkehr nach Iffezheim im folgenden Jahr, somit in Zeiten, in denen es dort mehr als dreimal so viel Preisgeld wie heutzutage zu gewinnen gab.

Mit Clive Brittain, zu dessen Markenzeichen auch gehörte, seine Pferde noch bei Dunkelheit, vor allen anderen Kollegen in Newmarket zu trainieren, verliert der britische Turf nicht nur eine erfolgreiche, sondern auch eine beim Publikum äußerst beliebte Persönlichkeit. Neben seinen vielen sportlichen Erfolgen werden vor allem seine Tanzeinlagen bei den Siegerehrungen in Erinnerung bleiben. Sie hatten beim britischen Publikum ähnlichen Kultcharakter wie der Dettori-Jump des Top-Jockeys nach Gruppe I Siegen. Im letzten Jahr, als Brittain beim Royal Ascot Meeting mit der Stute Rizeena in den Coronation Stakes nach längerer Durststrecke noch einmal einen Gruppe I Volltreffer landen konnte, bemühte sich der zu diesem Zeitpunkt 80jährige, sein Markenzeichen in altersbedingt etwas geruhsamer Variante aufzuführen. Das Publikum dankte es ihm gerührt, die Presse kommentierte es gnädig. In der Zukunft wird man auf seine Tanzeinlagen verzichten müssen.

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