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Das lächelnde Mädchen aus Kruppstahl

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Turf aktuell

TurfTimes: 

Ausgabe 596 vom Freitag, 29.11.2019

Richard Hannon diktierte einem Reporter schon im letzten Jahr folgende Sätze in den Block: "Das Mädchen ist hart. Wenn du sie triffst, denkst du zuerst, dass sie nur ein süßes Mädchen ist. Sie ist reizend, immer lächelnd, aber sie ist so zäh wie Kruppstahl. Sie reitet so gut wie ein Mann“. Das so charakterisierte  „Mädchen“ ist die 23jährige Hollie Doyle, die am Donnerstag letzter Woche als erst dritte Frau in der Geschichte des britischen Rennsports die Schallmauer von 100 Siegen in einem Jahr durchbrach. Aktuell steht sie bei 103 Jahreserfolgen und hat in den verbleibenden fünf Wochen eine realistische Chance, auch die von Josephine Gordon vor zwei Jahren aufgestellte Rekordmarke von 106 Jahressiegen einer Frau im Rennsattel zu überbieten.

In Deutschland denkt man beim Namen Doyle eher an den aktuell höchst erfolgreichen Godolphin-Stalljockey James Doyle oder den bereits im fortgeschrittenen Jockeyalter befindlichen Brett Doyle, dessen beste Zeit in England schon einige Jahre zurückliegt, der jedoch später Championjockey in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain war, doch mit all diesen Doyles hat die hierzulande noch weitgehend unbekannte Hollie verwandtschaftlich nichts zu tun. Dennoch ist die in der ländlichen Mitte Irlands aufgewachsene junge Frau familiär vorbelastet, und das sogar in extremer Weise. Sowohl ihr Vater Mark als auch ihre Mutter Caroline waren Jockeys. Der Vater ritt einige Sieger auf der Flachbahn, bevor ihm das steigende Gewicht zu schaffen machte und er in die in Irland populäre Sparte der Point-to-Point-Rennen wechselte. Ihre Mutter ritt einige Zeit lang in Rennen für arabische Vollblüter. Hollie wuchs somit in einer Welt der Rennpferde auf und konnte sich von Beginn an nur ein Leben als Jockey vorstellen. „Ich wollte von Kindheit an Rennen reiten, ich hatte nie einen Plan B“, bekundet sie stets in Interviews. Ihre ersten Rennerfahrungen sammelte sie in Ponyrennen, mit denen sie im Alter von 9 Jahren begann. „Allzu erfolgreich war ich nicht, doch habe ich dort das Reiten richtig gelernt“, kommentiert sie den Beginn ihrer Sattelkarriere.

Schon in der Endphase der Zeit der Ponyrennen lernte sie Tom Marquand kennen, den heute 21jährigen Aufsteiger des Jahres in der britischen Jockey-Szene, der Rang 4 im britischen Jockey-Championat 2019 belegte. Marquand und sie wurden zum Paar und sind es bis heute geblieben. „Im Rennen schenken wir uns allerdings nichts“, versichert Hollie, doch „wir versuchen schon, uns nicht platt zumachen“, ergänzt Tom in einem Artikel der Times, die sich im letzten Jahr ausführlich dem Liebespaar des britischen Rennsports widmete, denn „sonst gibt es kein gemeinsames Abendessen“. Auf das richtige Essen muss insbesondere Tom achten, so dass er für die Auswahl der Gerichte und das Kochen zuständig ist, während die nur 1,52m große und unter 50kg schwere Hollie noch nie Probleme mit dem Gewicht hatte und „eigentlich alles essen kann“.

Der Weg von den Ponyrennen in Irland zum aktuell erfolgreichsten weiblichen Jockey Englands war ein langer. Nach dem Schulabschluss verließ sie sechszehnjährig ihre irische Heimat und ging an Stall von David Evans im walisischen Abergavenny. Zunächst ritt sie mit einer Amateurlizenz, den Status einer Auszubildenden erhielt sie erst später. Gleich ihr erster Ritt im Mai 2013 in einem Amateurrennen in Salisbury auf dem Montjeu-Sohn The Mongoose endete mit einem Sieg. In der Folgezeit ging es allerdings nicht so richtig weiter auf der Erfolgsspur. Drei Erfolge bei 16 Ritten in ihrem ersten Jahr waren zwar ein vielversprechender Start, doch in den folgenden Jahren war die Ausbeute geringer. 2014 blieb es bei nur einem Sieg aus 44 Ritten, 2015 waren es 2 Siege bei 39 Ritten. Für Hollie kam der Zeitpunkt, an dem sie sich Gedanken machen musste, wie es beruflich weitergehen sollte. Sie wechselte an das Quartier von Richard Hannon, nicht nur ein großes Trainingsquartier im englischen Marlborough, sondern auch eine wahre Talentschmiede des britischen Jockey-Nachwuchses. Ihr Freund Tom Marquand war zu diesem Zeitpunkt bereits Jockey-Lehrling am Hannon-Stall und zählte dort zu den aufstrebenden Nachwuchskräften. Auch für Hollie zahlte sich der Wechsel aus. Die Anzahl der Ritte erhöhte sich, 258mal stieg sie in 2016 in den Sattel, und auch die Siegausbeute wuchs, 33 Erfolge standen bei ihr am Ende des Jahres 2016 zu Buche. Neben Hannon nutzten auch andere Trainer ihre Erlaubnis in Handicaprennen gerne, so dass die Zahl der Ritte kontinuierlich stieg. Stattliche 516 Ritte verzeichnen die Annalen in 2017 für sie, 59 davon konnte sie in einen Sieg ummünzen. Für den „Boss“, wie Doyle ihren Lehrmeister Hannon in allen Interviews nennt, gelang ihr im August 2017 auch ihr erster Blacktype-Erfolg, als sie die 3jährige Stute Billesdon Bess zu einem Listensieg in Salisbury ritt. Weitere vier Erfolge auf Listenparkett folgten in 2018 und 2019, darunter auch zwei Listensiege in Frankreich. Auf einen Volltreffer in einem Gruppe-Rennen muss sie noch warten.

Das Jahr 2018 brachte für Doyle jedoch auch einige Rückschläge auf ihrem Weg nach oben. Dass sie mit 55 Erfolgen bei knapp 600 Ritten ihre Vorjahresbilanz nicht steigern konnte, ist dabei nicht als Rückschlag zu werten, da Nachwuchsjockeys nach Verlust der Erlaubnis oft Probleme bekommen und somit das Vermeiden eines Rückgangs an Siegen und Ritten im ersten Jahr ohne Erlaubnis bereits als Erfolg gesehen werden kann. Gravierender waren die Verletzungen, die sie sich in 2018 zuzog. Im Juni, nur einen Tag nachdem sie mit dem Riesenaußenseiter Ortiz beim Royal Ascot Meeting einen überraschenden 2. Platz im Sandringham Handicap errungen hatte, war sie in Haydock in einem üblen Sturz verwickelt, bei dem sie am Boden liegend von mehreren Pferden überrannt wurde. Der Sturz führte zu schweren Gesichtsverletzungen. Sie wurde von einem Huf am Kiefer getroffen, beide Vorderzähne wurden dabei herausgeschlagen, sieben weitere Zähne schwer beschädigt. „Es war mein schlimmster Albtraum, weil ich ein wirklich lächelnder Mensch bin und bei meinem Lächeln sah man immer all meine Zähne. Doch die waren jetzt nicht mehr da, so dass ich Panikattacken und Hitzewallungen bekam, wenn jemand mit mir reden wollte.“ Sie investierte privat mehrere Tausend Pfund in die zahnärztliche Versorgung, mittlerweile kann sie wieder ohne Panikattacke lächeln. Auch heute erinnert jedoch eine fünf Zentimeter lange Narbe, die sich von ihrer Nase bis zu ihrer Oberlippe erstreckt, an den Vorfall.

Offensichtlich kennt Doyle trotzdem keine Angst. Nur zehn Tage nach dem Sturz in Haydock bestritt sie ihr nächstes Rennen. Fünf weitere Stürze in diesem Jahr führten bei ihr zu teils heftigen Gehirnerschütterungen. Nach dem schlimmsten Sturz während des Trainings hatte sie längere Zeit Probleme mit ihrem Gleichgewichtssinn und war auf einem Ohr taub. Doch ficht sie das nicht an: „Es hätte viel schlimmer kommen können. Ich kann gehen, reden, atmen und reiten und das ist alles, was mich interessiert."

Mit dieser Einstellung überwand sie diese schlimme Phase im Vorjahr, in 2019 blieb sie von Verletzungen bislang weitgehend verschont und ritt ihre beste Saison. Insgesamt 755 Mal stieg sie bislang in einem Rennen in den Sattel, die allermeisten Ritte führte sie auf britischen Rennbahnen aus, doch dreizehnmal war sie auch in Frankreich sowie dreimal in Irland aktiv. Ihr Hauptpatron ist Archie Watson, der in seinem Quartier in Lambourn knapp 100 Vollblüter trainiert. Bei ihm reitet sie auch an vier Tagen der Woche im Training. An einem Tag der Woche reitet sie in der Morgenarbeit bei Clive Cox, dessen Trainingsquartier Beechdown Stables ebenfalls in Lambourn liegen. Auch mit ihrem ehemaligen „Boss“ Richard Hannon blieb sie nach Ende der Lehrzeit verbunden und ist dort noch an einem Tag der Woche in der Morgenarbeit aktiv. Doch nicht nur von diesen drei Quartieren erhält sie Rittangebote, insgesamt mehr als 100 Trainer engagierten sie in diesem Jahr für ihre Schützlinge. Mit dieser breiten Unterstützung ist ihr das Projekt „Centurion“ (so bezeichnet man im britischen Turf Jockeys, die auf eine dreistellige Siegzahl in einem Jahr kommen) in diesem Jahr gelungen, auf der Allwetterbahn in Chelmsford markierte der Erfolg mit dem Lebensdebütanten The Perfect Crown, passenderweise von Archie Watson trainiert, in einer Youngster-Prüfung den 100. Sieg in 2019.  In die für das britische Jockey-Championat zählenden Zeitspanne vom Guineas Meeting Anfang Mai bis zum British Champion Day Ende Oktober fielen 63 dieser Siege, was für Hollie Doyle Platz 13 in der Championatsendabrechnung bedeutete. Damit lag sie deutlich vor den nächstbesten weiblichen Jockeys wie Josephine Gordon (28 Siege, Platz 48), Megan Nicholls (24 Siege, Platz 58), Nicola Currie (24 Siege, Platz 60), Jane Elliot (23 Siege, Platz 62) und Hayley Turner (22 Siege, Platz 66). Wenn der Weg des zähen, lächelnden Mädchens im britischen Turf so weitergeht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr Lächeln auch bei den Siegerehrungen nach Gruppe-Rennen zeigen kann, vielleicht auch einmal auf einer deutschen Rennbahn.

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