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Derby-Hype in Epsom

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Turf aktuell

TurfTimes: 

Ausgabe 520 vom Freitag, 01.06.2018

In jedem Land, in dem es Galopprennen englischer Vollblüter gibt, spielt das nationale Derby eine besondere Rolle. Auch wenn sich international die Derby-Distanzen und –Dotierungen mittlerweile stark unterscheiden, so ist der alljährliche Derby-Hype in den Turf-Nationen ähnlich. Im Mutterland des Turfs steht am Samstag das mit umgerechnet 1,7 Millionen Euro dotierte Derby 2018 auf der Rennbahn in Epsom an, die britischen Medien berichten über jedes Detail der Vorbereitung auf das Rennen des Jahres und heizen die gespannte Erwartung der Fans an. Die Favoritenfrage ist dabei so eindeutig wie schon lange nicht mehr zu beantworten: Der bis dato ungeschlagene 2000 Guineas Sieger Saxon Warrior rangiert bei allen Buchmachern in exponierter Stellung am Wettmarkt, die Festkurse auf seinen Sieg stiegen zwar etwas nach der für ihn ungünstigen Auslosung der innersten Startbox, doch mit Kursen zwischen 18:10 und 22:10 für den Sieg des von Aidan O’Brien trainierten Deep Impact-Sohnes ist er nach wie vor ein heißer Anwärter auf den Derby-Triumph, den dann siebten seines Trainers im englischen Derby. Floppt Saxon Warrior, so besteht dennoch die Möglichkeit eines erneuten Derby-Erfolgs für Aidan O’Brien, sattelt der irische Ballydoyle-Maestro doch noch vier weitere Hengste des insgesamt zwölf Starter umfassenden Derby-Aufgebots. Chancenreiche Kandidaten jenseits des O’Brien-Quintetts sind der imponierende Dante-Sieger Roaring Lion aus dem Quartier von John Gosden, der von William Haggas zu sattelnde Chester Vase-Gewinner Young Rascal und der aus der irischen Aga Khan-Filiale bei Dermot Weld stammende Hazapour, dessen Onkel Harzand (Sea the Stars) vor zwei Jahren als englisch-irischer Doppel-Derby-Sieger für Furore sorgte. Mit Sevenna Star aus dem Gestüt Ammerland wird auch ein deutsches Element in Epsom vertreten sein, doch gilt die Nummer Zwei des Gosden-Stalls nur als Außenseiter.

Wir wollen an dieser Stelle jedoch keine weiteren Spekulationen über den Ausgang des diesjährigen Derbys anstellen, sondern den Blick in die Vergangenheit richten und an eines der skandalträchtigsten Derbys in der mehr als 200jährigen Geschichte des Rennens erinnern. Für englische Turf-Fans gehört die Geschichte des Derbys aus dem Jahr 1913 zu den Turf-Ereignissen, die auf der Insel jeder kennt. Vor fünf Jahren erschienen zum 100jährigen Jubiläum mehrere Bücher zum Thema, die BBC rollte den Fall in einer Dokumentation auf und alle Zeitungen widmeten sich noch einmal dem Thema. Hierzulande erlangten die Geschehnisse rund um das als „Suffragetten-Derby“ in die Annalen eingegangene Epsom–Spektakel erst durch den Kinofilm „Suffragette – Taten statt Worte“ eine gewisse Bekanntheit. Die Frauenzeitschrift Emma, die Wochenzeitung Die Zeit und andere Printmedien erinnerten in diesem Zusammenhang an die Vorkommnisse am 4. Juni 1913, dem Tag des Epsom Derby, an dem Emily Wilding Davison auf der Rennbahn zu Tode kam.

Die 40jährige Davison war eine Frauenrechtsaktivistin, die sich schon seit Jahren für die Emanzipation von Frauen und die Einführung des Frauenwahlrechts engagierte und in ihren dabei eingesetzten Mitteln nicht zimperlich war. Sie war Mitglied der von Emily Plankhurst, der bekannten Ikone der Suffragetten-Bewegung, gegründeten Women’s Social and Political Union und träumte nach mehreren Inhaftierungen aufgrund von Sachbeschädigungen von einer aufsehenerregenden Aktion, mit der sie nachhaltig auf ihre Sache aufmerksam machen wollte. Ohne jemanden vorher einzuweihen, nutzte sie dazu das Epsom Derby. Es ist nicht mehr zu ergründen, was ihr genauer Plan war, da sie mit niemandem vorher darüber gesprochen hatte und auch keine schriftlichen Zeugnisse dazu hinterließ. Die Fakten sind schnell erzählt: Sie stand beim Derby im Innenbereich des Geläufs direkt hinter Tattenham Corner, der berühmten letzten Kurve vor Beginn der Zielgerade. Nachdem die ersten Pferde die Kurve passiert hatten und eine Lücke im Feld entstanden war, schlüpfte sie unter den Rails durch, stellte sich auf das Geläuf in den Weg der heranrasenden restlichen Derby-Teilnehmer und versuchte, nach dem Zaumzeug der galoppierende Pferde zu greifen. Während die ersten auf sie zu galoppierenden Vollblüter noch ausweichen konnten, kam es beim vierten Pferd zum Crash: Der in den Farben des englischen Königs George VI galoppierende Hengst Anmer stieß frontal mit ihr zusammen, Anmer stürzte zu Boden und nahm dabei seinen Jockey Herbert Jones mit. Während Anmer unverletzt blieb, wurden die bewusstlosen Davison und Jones ins Krankenhaus transportiert. Emily Davison verstarb dort vier Tage später an ihren inneren Verletzungen, ohne zuvor noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben, Herbert Jones, einer der führenden Jockeys dieser Zeit, erlitt neben einem Rippenbruch und zahlreichen Prellungen ein Schädel-Hirn-Trauma, konnte das Krankenhaus jedoch nach einer Woche wieder verlassen.

In der Berichterstattung über das Derby war dieser Vorfall jedoch zunächst nur eine Randnotiz, dies änderte sich erst im weiteren Verlauf der Zeit. Die Aufmerksamkeit der Zeitungen galt zuallererst dem kontroversen Ausgang des Derbys. Der 25:10 Favorit Craganour hatte zwar als Erster den Zielstrich passiert, doch wurde er anschließend von der dreiköpfigen Rennleitung disqualifiziert und komplett aus der Platzierung genommen, so dass der auf Platz 2 hinter ihm eingekommene 1010:10 Außenseiter Aboyeur zum Derby-Sieger erklärt wurde (Aboyeur verlor bei seinen nächsten beiden Starts nach dem Derby und wurde daraufhin nach Russland verkauft, wo sich seine Spur in den Wirren des ersten Weltkriegs verliert).

Die Vorkommnisse rund um diese Disqualifikationsentscheidung beschäftigte die Presse zunächst weit mehr als der Unfall an Tattenham Corner. Die Endphase des Rennens war von zahlreichen Störungen gekennzeichnet. Die Schilderungen der Journalisten in den Presseberichten unterscheiden sich hinsichtlich des Hergangs, die damals noch in den Anfängen steckende Rennverfilmung bietet keine eindeutigen Beweise für eine von Craganour ausgehende Behinderung, es sieht eher so aus, als wären sich Craganour und Aboyeur in einem turbulenten Endkampf, den Craganour mit einem Kopf gewann, mehrfach in die Quere gekommen, wobei die Rolle des Verursachers dabei wechselte.

Ausgangspunkt für die Disqualifikation war nicht ein Protest aus dem Lager des Unterlegenen, sondern die Rennleitung schritt ex officio ein. Auf der Rennbahn war sogar der Ausgang des Derbys mit dem vermeintlichen Sieger Craganour durch einen Fehler in der Kommunikation als endgültig bestätigt worden (vergleichbar mit dem auf deutschen Rennbahn üblichen Klingeln nach dem Waageschluss erfolgt auf englischen und irischen Rennbahnen die Durchsage „Winner all right“), Craganour hatte man die Siegerschleife umgelegt, Besitzer Charles Bower Ismay nahm bereits die Glückwünsche entgegen, die Buchmacher begannen die Auszahlungen auf den siegreichen Favoriten vorzunehmen, bis sich langsam herumsprach, dass die Rennleitung den Ausgang des Rennens überprüfte. Über den Ablauf der Befragungen der Beteiligten und die Beratungen der Rennleitung gibt es keine Aufzeichnungen, die offizielle Begründung der Disqualifikation ist knapp formuliert und weist Craganour die Rolle des alleinigen Störenfriedes zu, der im Endkampf die gerade Linie verließ und neben Aboyeur auch drei weitere Konkurrenten behindert haben soll. Craganours Besitzer legte zwar nach dem Derby offiziellen Protest gegen die Disqualifikation ein, doch wurde dieser aus formalen Gründen – die Frist zum Einreichen eines Protests war um einen Tag überschritten – gar nicht behandelt. Daraufhin erwog er eine zivilrechtliche Klage und bereitete mit seinen Anwälten eine Klageschrift vor, doch nahm er von diesem Vorhaben wieder Abstand, wie er zwei Wochen nach dem Derby offiziell in der Presse verlauten ließ. Frustriert über die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit verkaufte er Craganour für 30.000 Pfund nach Argentinien unter der Bedingung, dass er dort keine Rennen mehr laufen dürfe und nur als Deckhengst aufgestellt würde. Das im Besitz von Martinez De Hoz stehende Gestüt Chapadmatal als Käufer Craganours akzeptierte die Bedingung und hatte dennoch einen guten Deal gemacht. Craganour wurde in seiner neuen südamerikanischen Heimat mehrfacher Champion-Deckhengst. Noch heute erinnert das alljährlich auf der Rennbahn San Isidoro in Buenos Aires gelaufene hochdotierte „Handicap Craganour“ an den verhinderten englischen Derby-Sieger.

In der Aufarbeitung der Disqualifikationsentscheidung rankten sich viele Spekulationen um persönliche Motive der Beteiligten, einen Derby-Erfolg von Craganour unbedingt verhindern zu wollen. Der Wahrheitsgehalt dieser Spekulationen ist mehr als 100 Jahre nach dem Ereignis nur schwer zu beurteilen, da die Quellenlage widersprüchlich ist. Selbst wenn einige damals diskutierte Sachverhalte eher aus dem Bereich von TV-Serien a la Dallas und Denver Clan zu stammen scheinen, so sind manche durch Fakten gestützte Details zumindest irritierend.

Der Derby-Unglücksrabe Craganour war als Youngster das dominierende Pferd seines Jahrgangs, sechs Erfolge in renommierten Prüfungen gelangen ihm. Gezüchtet wurde er von Major Eustace Loder, der ihn als Fohlen an das Sledmere Stud verkaufte. Als Jährling wurde er auf einer Auktion in Doncaster angeboten und als Höchstpreis der Auktion für 3200 Guineas von Charles Bower Ismay erworben, in dessen Rennfarben er später alle Rennen bestritt. Der Name Charles Bower Ismay war in dieser Zeit in England nicht unbedingt ein Name, der Türen öffnete und allenthalben Beifall fand. Sein Vater Thomas Henry Ismay hatte das Schifffahrtsunternehmen White Star Line gegründet, sein älterer Bruder Joseph Bruce Ismay, zu dem er ein enges Verhältnis pflegte, hatte die Leitung des Unternehmens übernommen und den Bau der Titanic verantwortet. An deren Jungfernfahrt mit tödlichem Ausgang für mehr als 1500 Personen im Jahr 1912 hatte Joseph Bruce Ismay teilgenommen und sich als einer der Ersten nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg in einem eigentlich Frauen und Kindern vorbehaltenen Rettungsboot von Bord begeben, was die britische Presse als höchst unehrenhaftes Verhalten brandmarkte. Doch reichten diese das familiäre Umfeld des Besitzers betreffenden Geschehnisse aus, um Craganour unfair zu behandeln und ihm den Derby-Sieg abzuerkennen? Bei einem der drei Rennleitungsmitglieder, dem ehemaligen Premierminister Earl of Rosebery, gibt es Quellen, die ein sehr distanziertes Verhältnis zu Charles Bower Ismay, einem seiner Meinung nach Vertreter einer unbritischen Familie, bestätigen. Das zweite Mitglied der Rennleitung an diesem Tag war ausgerechnet Major Eustace Loder, der Züchter Craganours, dessen Frustration über den frühen Verkauf eines zukünftigen Cracks ebenfalls von Zeitzeugen berichtet wird. Zudem – und jetzt kommen wir in den Bereich des Society-Klatsches a la Denver Clan – ist eine außereheliche Beziehung zwischen Loders Schwägerin und Charles Bower Ismay zu dieser Zeit belegt, die von Loder zutiefst missbilligt wurde. Das dritte Rennleitungsmitglied, Lord Wolverton, stand nach Zeitzeugen unter Einfluss des ehemaligen Premierministers Rosebery, mit dem er gemeinsam im damals politisch noch weit einflussreicheren englischen Oberhaus saß. Zudem hatte es im Jahr vor dem Derby bereits Auseinandersetzungen zwischen dem britischen Jockey Club und Charles Bower Ismay gegeben, da Pferde dieses Besitzers in Rennmanipulationen verwickelt waren, für die jedoch ihr damaliger Trainer in Newmarket verantwortlich gemacht wurde. Zutaten für eine Verschwörungstheorie sind somit allein schon durch die Besetzung der Rennleitung und das gespannte Verhältnis zum Jockey Club vorhanden.

Doch auch um die beteiligten Jockeys ranken sich Spekulationen, die sich zu Ungunsten von Craganour ausgewirkt haben könnten. In Craganours Sattel saß beim Derby erstmals der aus Paris angereiste Amerikaner Johnny Reiff, der im englischen Turf keine Lobby hatte. Er ersetzte den Briten William Saxby, der Craganour in den früheren Rennen geritten hatte. Saxby wurde die Niederlage in den 2000 Guineas zu Last gelegt, als er Craganour im Gefühl des sicheren Sieges sehr früh aufgenommen hatte. Auch wenn er und die überwiegende Mehrheit der Zuschauer in Newmarket der Meinung waren, auch im Ziel noch die Nase vorn gehabt zu haben, so hatte der Zielrichter entschieden, dass Craganour einen Kopf hinter dem Konkurrenten Louvois ins Ziel gekommen war, eine Zielfotographie, die hier für eine objektive Klärung hätte sorgen können, gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Saxby hatte im Derby dennoch einen Ritt bekommen, ausgerechnet auf besagtem Louvois, der ihm zuvor mit Johnny Reiff im Sattel einen Strich durch den Sieg in den 2000 Guineas gemacht hatte. Mit Louvois war Saxby auch am Endkampf im Derby beteiligt und endete einen Hals hinter dem vorderen Duo auf Rang 3. Er gehörte zu den durch die Rennleitung befragten Jockeys nach dem Derby und viele spekulierten im Nachhinein, ob seine Schilderung der Vorfälle in der Endphase des Rennens angesichts der Rivalität zu Craganours Jockey objektiv gewesen sein kann.

Das Epsom Derby am Vorabend des ein Jahr später beginnenden ersten Weltkriegs sorgte somit für weit mehr Gesprächsstoff als ein normales Derby. Die Kombination von politisch motiviertem Anschlag auf die ordnungsgemäße Durchführung des Rennens mit Todesfolge für eine der Beteiligten und fragwürdiger Disqualifikationsentscheidung zum Rennausgang machen dieses Derby einzigartig. Für das bevorstehende Derby am Samstag wünschen sich Turf-Fans und –Funktionäre keine Wiederholung solch spektakulärer Vorkommnisse. Ein zwischenfallfreier Rennverlauf mit einem imponierenden Sieger, der in den Medien aufgrund seiner Leistung für Aufmerksamkeit sorgt und breite Beachtung findet, das ist die Wunschvorstellung. Die Publikumsmassen des Jahres 1913 werden sich an diesem Wochenende nicht auf der Rennbahn in Epsom einfinden, doch ein Fest des britischen Turfs vor imposanter Kulisse wird es dennoch werden.

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