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Das Drama um Diore Lia

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Turf aktuell

TurfTimes: 

Ausgabe 470 vom Donnerstag, 01.06.2017

Um nahezu jedes Derby ranken sich im Vorfeld mehr oder weniger kuriose Geschichten, die nicht direkt etwas mit der sportlichen Leistung der vierbeinigen Hauptakteure zu tun haben. Manche dieser Geschichten bleiben lange im Gedächtnis der Turf-Fans und überdecken manchmal sogar die Erinnerung an den Derby-Sieger. Wer erinnert sich nicht an das Zahnschmerz-Drama des klaren Derby-Vorabfavoriten Mandelbaum in der Woche vor dem Derby-Start 1990? Selbst diejenigen, die zu jung sind, eine eigene Erinnerung an dieses Ereignis zu haben, dürften davon aus Erzählungen von Älteren schon etliche Male gehört haben. Dagegen ist die Erinnerung an den nach Mandelbaums zahnschmerzbedingtem Ausfall zum Derby-Sieger aufgestiegenen Karloff längst verblasst. Was sich derzeit in England im Vorfeld des am Samstag anstehenden Epsom Derby rund um einen Derby-Start der Yeats-Tochter Diore Lia abspielt, hat durchaus die Chance, sich ebenfalls in das Gedächtnis der Turf-Fans einzubrennen.

Wir hatten schon in der letzten Woche in unserem Beitrag zur kontroversen Diskussion über die französische Erlaubnisregelung für Frauen auf den möglichen Derby-Start Diore Lias hingewiesen (klick). Zu diesem Zeitpunkt stand Diore Lia noch im Stall von Jane Chapple-Hyam und sollte von der Australierin Michelle Payne geritten werden, es war jedoch noch unklar, ob Diore Lia nicht dem Starterlimit in Epsom (max. 20 Pferde können im englischen Derby an den Ablauf kommen) zum Opfer fallen würde. Seit letzter Woche haben sich die Ereignisse rund um Diore Lia geradezu überschlagen und beherrschen die Schlagzeilen der Berichterstattung zum Derby, wobei dies nicht der sportlichen Leistung der Stute geschuldet ist.

Diore Lia ist zweimal in ihrer Karriere an den Start gekommen. Beim Debüt Ende April in Epsom wurde sie mehr als 25 Längen hinter dem Sieger Vorletzte, danach schaffte sie Mitte Mai bei einem weiteren Start in einem kleinen Maidenrennen in Lingfield Platz 5 im achtköpfigen Feld. Die Racing Post gab ihr für diese Leistung ein Rating von 52 (zum Vergleich: die Derby-Favoriten Cliffs of Moher und Cracksman erhielten bei ihren letzten Starts vor dem Derby durch die Racing Post Einstufungen von 108 und 107). Da das Derby-Starterfeld durch Streichungen auf 19 Teilnehmer schrumpfte und keine sportlichen Mindestanforderungen für einen Start im Derby existieren, stand dem Griff nach den Sternen prinzipiell nichts im Wege. Doch Trainerin Jane Chapple-Hyam wollte Diore Lia aus dem Derby-Feld nehmen, sie hielt es für nicht angemessen, die Stute in Epsom an den Start zu bringen. Da Züchter Richard Aylward seine Stute, die in den Farben seiner Schwester Mary Todd auf der Rennbahn auftritt, unbedingt im Derby laufen sehen wollte, wechselte Diore Lia das Quartier und kehrte zurück zu John Jenkins, der sie bereits vor Beginn ihrer Rennkarriere betreut hatte. Aylwards Motive für den vermeintlich chancenlosen Derby-Start sind dabei höchst ehrenhaft: Er will Aufmerksamkeit auf einen Wohltätigkeitsverein eines Londoner Kinderkrankenhauses lenken und betreibt mit Diore Lia Spendenwerbung für die Wohltätigkeitsorganisation.

Mit dem Stallwechsel stellte sich auch die Frage nach einem neuen Jockey, da die mit Jane Chapple-Hyam befreundete Australierin Michelle Payne jetzt abwinkte. Kurzerhand wurde die 25jährige Gina Mangan, Nachwuchsreiterin am Stall von John Jenkins, als Jockey im Derby angegeben. Diese Bekanntgabe löste einigen Wirbel aus, handelt es sich bei der aus Irland stammenden Erlaubnisreiterin doch um eine weitgehend unerfahrene Reiterin. Mangan hatte ihre Jockey-Laufbahn in Irland begonnen und feierte dort 2009 in einem kleinen Rennen auf der Provinzrennbahn Roscommon einen einzigen Sieg. Sie legte dann jedoch ab 2011 eine Pause ein. Durch einen Australien-Aufenthalt, in dem sie sich auch als Arbeitsreiterin betätigte, fühlte sie sich wieder motiviert, in den Rennsport zurückzukehren. Sie ist im Besitz einer gültigen Profi-Lizenz der britischen Rennsportdachorganisation BHA, ein Sieg in England blieb ihr bislang allerdings versagt. Ihre beste Ausbeute bei 35 Ritten ihrer zweiten Jockey-Phase war ein 3. Rang, auf der Derby-Bahn in Epsom hat sie noch nie geritten. In dieser Unerfahrenheit sahen etliche Kommentatoren angesichts der Kursführung in Epsom ein Problem, könnte sie doch andere Derby-Starter um ihre Chancen bringen. In einer ersten BHA-Stellungnahme vom letzten Wochenende verwiesen die britischen Turf-Aufseher jedoch darauf, dass Mangan als Inhaberin einer Profi-Lizenz der BHA auch das Recht hätte, im Derby zu reiten, wenn ihr ein solcher Ritt angeboten würde.

Am Mittwoch überschlugen sich dann die Ereignisse. Die BHA änderte ihre Meinung und verwies auf einen in jüngeren Vergangenheit nie genutzten und daher in Vergessenheit geratenen Paragraphen der britischen Rennordnung („Rule (F) 83“), der ihr das Recht gibt, Gina Mangan als Reiterin abzulehnen, wovon sie aufgrund der Unerfahrenheit der Reiterin und zum Schutze der anderen Derby-Teilnehmer aus Sicherheitsüberlegungen Gebrauch machte. Applaus bekam die BHA für ihre Entscheidung umgehend von Jockey Ryan Moore, der in seiner Betfair-Kolumne dieses Vorgehen begrüßte und der BHA dazu gratulierte. In der britischen Presse, die am Drama um den Derby-Start von Diore Lia regen Anteil nimmt, traf diese Kehrtwendung der BHA dagegen auf ein gemischtes Echo. Die Kritiker bemängelten, dass hier auf sehr wackeliger rechtlicher Grundlage der Traum vom Derby-Sieg eines Außenseiters zerstört worden wäre und dies auch dem Ansehen des Rennsports in der breiten Öffentlichkeit schaden würde. Sehr getroffen zeigte sich das Team um Diore Lia. Nicht nur eine verzweifelte Gina Mangan, die ihren Kritikern allerdings durch ihren Ritt am Mittwoch in einem Nachwuchshandicap in Kempton neue Argumente geliefert hatte (Mangan wurde von der Rennleitung in Kempton mit einem viertägigem Reitverbot wegen gefährlicher Reitweise belegt), sondern insbesondere Züchter Richard Aylward zeigte sich tief enttäuscht und bezeichnete die Begründung der BHA für die Entscheidung als „völligen Unsinn“. In seiner Stellungnahme am Mittwoch verwies er auch auf die Wetter seiner Stute, die durch die BHA-Entscheidung nicht nur um ihre Einsätze betrogen würden, sondern auch den Traum vom großen Gewinn nicht mehr weiterträumen könnten. Das Drama um den Derby-Start Diore Lias schien damit beendet.

Doch am Donnerstag gab es eine erneute Wendung, der letzte Vorhang in diesem Drama war doch noch nicht gefallen, der nächste Akt des Dramas konnte beginnen. Nachdem es am Vortag noch so ausgesehen hatte, als füge sich das Team um Diore Lia in das Unausweichliche und lege einen Derby-Start ad acta, so überraschte Aylward am Donnerstagmorgen mit einer neuen Jockey-Verpflichtung. Er zauberte den 19jährigen Paddy Pilley, einen durchaus erfolgreichen Nachwuchsreiter am Stall von Roger Charlton, aus dem Hut. Der noch mit 5 Pfund Erlaubnis ausgestattete Pilley schaffte immerhin 34 Siege in seinen bisherigen 469 Ritten, Unerfahrenheit kann man ihm somit nicht vorwerfen. Aylward zeigte sich bei der Ankündigung der neuen Jockeyverpflichtung weiterhin „angewidert von dem, was die BHA Gina [Mangan] angetan hat“ und bekundete sein Mitgefühl mit der um ihren Derby-Ritt gebrachten jungen Frau. Trotzdem wolle er Diore Lia an den Start bringen, da die Werbung für die Wohltätigkeitsorganisation des Kinderkrankenhauses Vorrang habe, Spenden kämen schon jetzt von überall, selbst aus den USA. Mit einem kämpferischen „Sie werden uns nicht stoppen“ stilisierte er zudem Diore Lias Derby-Start zu einer kleinen Rebellion gegen das Turf-Establishment. In einer ersten Stellungnahme bekundete die BHA keine Einwände gegen einen Derby-Start Diore Lias mit Nachwuchsreiter Paddy Pilley im Sattel, doch muss man abwarten, ob dies wirklich das letzte Wort in der Angelegenheit ist.

Der nächste Akt dieses Turf-Dramas steht für Samstagnachmittag auf dem Programm. Wenn sich um 16:30 Uhr die Startboxen des englischen Derbys auf der Rennbahn in Epsom öffnen, ist zu hoffen, dass Diore Lia in einem zwischenfallfreien Rennen mit von der Partie ist. Nach allen Vorleistungen kann es für die 10.000:10 Außenseiterin (solche Außenseiter werden im englischen Turf als „no hoper“ bezeichnet) kein Happy End des Derby-Traums geben. Doch selbst dann wird man sich lange an die Geschichte von Diore Lia im Epsom Derby 2017 erinnern. Wer weiß, ob der neue Derby-Sieger ähnlich gut im Gedächtnis verbleiben wird.

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